REZENSION
                             
       

Das Potential des Films liegt abseits des Geschehens

Lew Kuleschow: Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki - Filmkonzert in der Berliner Volksbühne, rezensiert von von M. Wozniak am 26. Dezember 2010

   
       
   

Die Kulturschaffenden Russlands hatten neben der theoretischen Analyse durch fehlende Traditionen und dem irrelevanten Erfolgsdruck auch frühzeitig die massenkulturelle Bedeutung des Films vorangetrieben. Einer der frühen Theoretiker, Lew Kuleschow, drehte 1924 den Film "Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki". Seine theoretischen Ansätze begründeten sich zuvorderst auf dem seiner Meinung nach fundamentalen Unterschied zwischen Theater und Film. Er war der festen Überzeugung, dass das Potential des Filmes außerhalb des theatralischen Geschehens, hier im Sinne von Kammerspiel, liege. Er forderte eine wissenschaftliche Herangehensweise, die davon ausgeht, dass Filme „vom Regisseur am Schneidetisch” geschaffen werden. Konstituierend war für ihn vor allem die Bewegung und der Schnitt. Diese beiden Parameter lassen seinen Film über Mr. West auch zu einer der innovativsten Arbeiten des russischen Filmes werden. Natürlich ist auch Kuleschow beeinflusst, maßgeblich natürlich vom amerikanischen Detektivfilm. Trotzdem machen gerade die Ausführung und die Handlung den Film interessant. Eine Satire im Sinne von Verspottung von Anschauungen ist in Bezug auf die Darstellung von amerikanischen Vorurteilen gegenüber den Bolschewiki gerechtfertigt. Auch erscheint die übertriebene, im Slapstickrahmen des Films unfreiwillig komische Schlussszene durchaus satirisch. Hierfür ist jedoch eher der heutige Blick verantwortlich als eine Intention Kuleschows im Sinne von Satire.

       

Nun aber zur Handlung: Mr. West, in Sachen Y.M.C.A. in Russland unterwegs, verliert kurz nach der Ankunft in Moskau seine Tasche und den ihn zum Schutz vor den Bolschewiki begleitenden Cowboy. Eine Gaunerbande, unter dem Vorwand ihn vor den Bolschewiken zu schützen, spielt ihm eine aufwändige Horrorschow vor. Zur Befreiung angeblicher Bolschewiki zahlt er $ 3000,-. Als er in flagranti mit der Gräfin der Bande erwischt wird, schreiten die echten Bolschewiki, die inzwischen vom Cowboy gerufen wurden, ein und befreien Mr. West. Das Bild wird geradegerückt – sowohl von Moskau als auch von den Bolschewiki. Mr. West lässt übers Radio (?) an seine Frau die Nachricht übermitteln, sie solle die New York Times verbrennen und Lenin aufhängen. Der Plot verarbeitet mehrere Handlungsstränge. Mindestens zwei sind immer ineinander verschränkt. Die Hauptstory mit Mr. West wird durch die Cowboy-Szenen unterbrochen. Dabei überraschen die großartigen Actionszenen: es beginnt mit einer wilden Verfolgungsjagd zwischen dem Cowboy und der Polizei. Dabei reitet der Cowboy wie im Wilden Westen mit einer Kutsche durch Moskau, immer verfolgt von motorisierter Polizei, die wild über den Roten Platz rast. In der nächsten Szene flieht der Cowboy über die Dächer Moskaus und dringt versehentlich in die Bibliothek ein – und zwar schwingt er sich an einer Stromleitung durchs Fenster. Die Schlägerei mit den Bibliothekaren wird durch die überraschende Wiedererkennung mit einer amerikanischen Freundin beendet. Diese Freundin holt den Cowboy auch aus dem Gefängnis, da sie seine Rechtschaffenheit durch eine Erzählung über ihre Errettung vor zwei Hooligans durch ihn beweisen kann. Hier wird die Vergangenheit durch Bilder erzählt, es gibt zwei solcher Szenen im Film. Danach können sich Mr. Wests Freundin Elly und Mr. West ganz auf die Bolschewiki verlassen.

   
       
   

Aufgelockert ist das ganze mit Slapstick, wenn z. B. ein Bibliotheksbeamter alles von der Leiter aus beobachten will, dann jedoch die vorher verschonte Vase zum Schluss doch zerschlägt. Oder wenn bei der Schlägerei der Gangster der Boss das Wurfgeschoss abbekommt. Grandios sind natürlich die Bolschewiki-Szenen, wenn bärtige, menschenfressende Barbaren mit Sicheln und Hämmern um sich schlagen. Highlight ist die Gerichtsszene, wo Bauern Mr. West zum Tode verurteilen und der Henker Späße macht. Natürlich werden hier nicht nur westliche Vorurteile verarbeitet, sondern ebenso russische Verhaltensweisen und Eigenheiten durch Überspitzung lächerlich gemacht. Der ganze Film ist trotz allem nicht subversiv. Er ist satirisch im Hinblick auf Vorurteile der Amerikaner. Ansonsten spielt er mit den Klischees, um sie zu entlarven. Er versteht sich als aufklärerisch, fortschrittlich, revolutionär und pädagogisch – nach dem Motto: unseren Menschen kann das nicht passieren, die sind nicht so naiv und haben auch nicht so viel Geld. Was die Musik betrifft, so ist verwunderlich, dass es keine Originalmusik gibt. Die Livefassung des Abends wurde vom Ensemble Kontraste gespielt und ist 1984 von Benedict Mason komponiert worden. Der Komponist nahm auch selbst an der Vorführung teil. Sein Konzept ist größtenteils folkloristisch. Zumindest ging er von einem Ensemble aus, was auch hinter dem Ural, bei Minusgraden und Filmvorführungen auf Holzbänken noch vorstellbar ist. Neun Musiker wurden von Frank Strobel geleitet. Die Musik verstand sich mehr noch als der Film als Collage. Auch für Mason sind Schnitte extrem wichtig. Es gab einige Melodieparts, die aber teilweise auch zergliedert wurden, um anders wieder zusammengesetzt zu werden. Eine große Anzahl von Zitaten oder Fremdthemen setzte auf Wiedererkennung und ein teilweise konsequentes Geräuschekonzept gab den Bewegungen und Schnitten ein komplementäre Ebene. Es schien, als wollte manchmal der Kuleschow-Effekt die Musik erreichen. Allerdings steigerte sich das Ganze dahingehend, dass gesprochene Parts mit einem Phantasierussisch eingefügt wurden. Hier verlor die Komposition an Glaubwürdigkeit.

       

Die Aufführung war insgesamt gelungen. Die Musiker leitsteten gute Arbeit und größtenteils stimmten auch die Synchronstellen. Die Dramatik war nicht so nachvollziehbar, sie entstand eher durch Zufall. Zwar wurde die letzte Szene besonders pianissimo gespielt, allerdings wurde nicht klar, warum. Hier lässt Mr. West den Gruß nach Amerika übers Radio schicken. Dann wird eine Fabrik gezeigt, wo irgendwas verbrannt wird und dann schwenkt die Kamera auf den Sendemast und dann – Koniez. Nach wie vor gibt es Interesse an dem Film. So wird fast gleichzeitig in Potsdam eine Filmaufführung mit dem Filmorchester Babelsberg vorbereitet, wozu Bernd Wefelmeyer und Karl Heinz Wahren eine neue Begleitmusik komponiert haben, die am 5. November 2003 im Theaterhaus Potsdam als Filmkonzert uraufgeführt wird.

   
       
     
© by MaWozniak, 03. Oktober 2003