REZENSION
       

Konkrete Kontraste

Der Mann mit der Kamera von Dziga Wertow im Filmkonzert,
rezensiert von M. Wozniak

   
       
    Neben der breitenwirksamen Mainstreamförderung von filmischen Klassikern der Neuen Sachlichkeit -- wir erinnern uns an die Neuauflage des Ruttmannklassikers Berlin - Sinfonie einer Großstadt (1927) durch Thomas Schadt, mit der 2002 ein neuerlicher Erfolg des Originals eingeläutet wurde -- scheint es auch ein subversives Interesse an diesen Kunstprodukten zu geben, und vor allem auch ein musikalisch-kreatives für Musiker fernab der E-Musik. Denn das vielfach unterschätzte musikalische Gesicht des Genres Stummfilm bietet für jede Art von Musik ein breiteres Publikum -- so eben auch für subversive. Der australische Jazzschlagzeuger Tony Buck wählte einen der klassischen sowjetischen Kunstfilme der 1920er Jahre als Quelle und gleichzeitige Kulisse für seine elektronische Musik: Dziga Wertows Mann mit der Kamera von 1928/29 (deutsche Premiere in Berlin war am 2. Juli 1929). Diese Mischung stellte er am 13. November 2003 im Rahmen der russischen Kulturtage in Greifswald vor. Bevor jedoch seine Musik beurteilt wird, müssen doch einige Worte zum Film an sich verloren werden, da er trotz seiner unbestrittenen Bedeutung wider Erwarten wenig bekannt ist.
       

Als erste Besonderheit des Films überraschte die -- in der Literatur würde man sagen: poetologische Einleitung. Im Anspann wird durch die einzigen Zwischentitel des gesamten Films darauf hingewiesen, dass weder weitere Zwischentitel, noch Drehbuch, benutzt, geschweige denn Schauspieler oder Handlung eingesetzt werden. Stattdessen sollen einfach Szenen aus einem gewöhnlichen Tag eines Kameramanns aneinandergereiht werden -- man beachte dabei die doppelte Konzeption: die Szenen betreffen das, was der Kameramann an einem Tag aufnimmt genauso, wie ihn selbst an diesem Tag. Diese Einleitung ließ Komplettmontagen im Stile solcher Fernsehsendungen wie PrimeTime erwarten. Allerdings überraschte der nächste Zwischentitel mit der Formulierung eines neuartigen Anspruchs: die Möglichkeiten von Theater und Literatur sollen für den Film genutzt werden (vgl. Pudowkin). Das verspricht ja einiges, dachte so mancher Zuschauer. Vor allem die Ankündigung des Beweises einer absoluten Kunst und absoluten Kinosprache durch diesen Film, machte das Publikum neugierig.

   
       
    Was dann passierte, kann tatsächlich kaum als Handlung bezeichnet werden. Vielmehr sah man anfangs die Bilder eines Kameramanns, der die Kamera ersteigt und von dort die schlafende Stadt Odessa sieht. Ähnlich Ruttmanns Sinfonie einer Großstadt erlebt man daran anschließend das Erwachen der großen Stadt. Das passiert teilweise mit ironischen Schnitten, z.B. werden Parkschläfer gefilmt und in Kontrast zu Aufrufschildern (Haltet Eure Stadt sauber!) gesetzt; wie auch bei Ruttmanns Sinfonie. Als zentrales Strukturmerkmal finden wir also auch hier einen kompletten Tag mit seiner Dynamik und seinen verschiedenen Stimmungen, die rhythmisch voneinander abgegrenzt werden. Allerdings steht nicht so sehr die Rhythmik der chronologischen Abläufe der verschiedenen Tagesereignisse im Vordergrund, sondern mehr der Rhythmus der Kontraste innerhalb der Ereignisse. So stehen zum Beispiel Szenen der Arbeit im Kontrast zu Freizeitszenen; allerdings nicht im Sinne von Arbeit als Spannung und Freizeit als Entspannung, sondern eher wie bei Ruttmann in einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit. Das heißt, dass dabei die Arbeit auch ihre Ruhepunkte hat -- sie wird oft von Maschinen oder Tieren ausgeführt -- und dementspechend hat die Freizeit ihre Anspannung und Anstrengung, so vor allem bei den Sportbildern oder den anstrengenden Fitness- und Schwimmübungen, bei der die Menschen wie Maschinen erscheinen. Überhaupt sind schon die Schnitte so montiert, dass dadurch konkrete Kontrastbilder entworfen werden, wie z.B. Wäschewaschen vs. Haarewaschen oder Maniküre vs. Filmcut. Den stärksten Kontrast stellt jedoch der durch das Filmkonzept vorgegebene zwischen Realität und Virtualität dar: Die vermeintliche Realität wird mit dem Auge (welches auch ganz symbolisch durch eine Auge-auf-Linse-Überblendung deutlich gemacht wird) des Kameramanns und darauf aufbauend mit dem des Zuschauers wahrgenommen, aussortiert und interpretiert. Hier wird mit dem Wechsel der Ebenen gespielt, so dass man nicht in jedem Fall weiß, auf welcher Ebene man sich gerade befindet. Das geht soweit, dass man einen Kinosaal sieht, wo auf der Leinwand der filmende Kameramann zu sehen ist. Darüber hinaus taucht dabei zum ersten Mal das Motiv einer unsichtbaren Kraft auf, hier im Sinne von unsichtbaren Zuschauern. Analog dazu gibt es noch den unsichtbaren Kameramann, in dessen An- oder eben Abwesenheit sich die Kamera verlebendigt.
       

Spätestens daran erkennt man die Nähe zu Ruttmann, denn auch hierbei wird im neusachlichen Stil jede Sozialkritik vermieden. Wenn sich etwas in diesem Sinne andeutet (wie die oben erwähnten Obdachlosen auf den Parkbänken), wird einfach durch den Schnitt eine ideologische Interpretation verhindert. Keine Szene wird näher kommentiert. Alles, vor allem die im Kontrast zu den Maschinen stehenden Menschen, werden distanziert und scheinbar objektiv beobachtet, wobei sich der Kameramann ein ausschließlich ästhetisches Reflektieren erlaubt. Hier liegt im Übrigen die literarische Qualität des Films: das Reflektieren; und hierbei beweist sich auch, dass Der Mann mit der Kamera kein Dokumentarfilm ist.

   
       
    Die Kamera filmt sich größtenteils selbst. Immer sieht man den Kameramann, der Teil des Geschehens ist, aber selbst das Geschehen dokumentiert. Dies stellt die bedeutendste Innovation gegenüber Ruttmann dar, aber es werden auch viel mehr technische Experimente gewagt. Die obligatorischen Eisenbahnbilder werden durch Stunts im amerikanischen Stil äußerst spannend inszeniert -- der Mann mit der Kamera verlässt im letzten Moment das Gleis, an dem er die ganze Zeit gehorcht hat. Auch bei den Straßenbahnbildern sind dramatische Kameraeinstellungen gewagt worden -- so steht der Kameramann oftmals inmitten zweier aneinander vorbeifahrender Bahnen. Und es wird streng eine Steigerung von Standbildern hin zu immer rasanteren Kamerafahrten (in der Fachsprache "Entfesselte Kamera") inszeniert -- solche Action gab es bei Ruttmann in dieser Konsequenz noch nicht. Diese aufnahmetechnischen Details, die ja die Arbeit eines jeden Kameramanns betreffen, sind natürlich noch technisch erweitert durch Überblendungen, Montage und Schnitte (u.a. mit Kuleschow-Effekten).
       

Nach diesen Anmerkungen zu einem außergewöhnlichen Film bleibt nicht viel zur Musik zu sagen, auch wenn der dem Mainstream entgegenstehende Anspruch hervorzuheben ist. Die Musik nun schien sich an die -- für den Film schlussendlich nicht zutreffende -- Ankündigung zu halten, dass kein Drehbuch benutzt wurde. Tony Buck spielte live Schlagzeug, hatte jedoch elektronische Klänge abrufbereit programmiert. Abgesehen von der Ungewöhnlichkeit, als Filmbegleitmusik elektronische Klänge zu hören, hatte die Musik einige Nachteile. Einerseits konnte man das Gefühl entwickeln, der Film würde nur zur Illustration des Musikvortrages genutzt. Andererseits lehnten sich die Klänge zu oft direkt an den Film an, als ob sie konzeptionell eben doch eher deskriptiv als expressiv angelegt waren. Leider schien es auch einige Male, abgesehen von der ohnehin dürftigen klanglichen Qualität, als ob die Einsätze, Klänge und die Dynamik synchron gedacht, aber nicht synchron gespielt seien. Vor allem zum filmdynamisch sich steigernden Finale hin nahm nicht nur die Klangfülle, sondern vor allem die Lautstärke zu, was sich für das Publikum nicht zum Positiven auswirkte. Alles in allem war die musikalische Begleitung leider höchstens als Experiment zu werten. Der Beifall der Zuschauer bezog sich dementsprechend eher auf den Film, der wohl insgesamt den Besuch motiviert und letztendlich gerechtfertigt haben dürfte.

   
       
     
© by MaWozniak, 05. Dezember 2003.