REZENSION
       

Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter oder eine theatralische Lüge!?

(in memoriam Taddäus Unterschütz)

Ob der Untertitel eines verletzten Katholiken passend war, wurde bei einem Theaterbesuch mit MaW am 08. Oktober 2003 geprüft (erste Fassung).

   
       
    "Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernuftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne." (Schiller: Über das Pathetische)    
       
    Diese Worte Schillers mit der Forderung nach Pathos an den Anfang zu stellen, erscheint etwas gewagt in Anbetracht des Stoffes, um den es geht, und angesichts einer nichtpathetischen Theateraufführung am Berliner Ensemble. Inzwischen wird es fast wieder als Provokation aufgefasst, Handeln im Sinne Schillers als frei zu konstatieren. Auch ein leidendes Vernunft- und Sinnenwesen als unabhängig und frei von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzunehmen, ist provokativ und diametral dem neuerlichen Fatalismus im Angesicht von Arbeitslosigkeit, WHO und vermeintlichem Ölkolonialismus entgegengesetzt. Auch Hochhuth fordert mit seinem Stück das Handeln des Vernunftwesens. Was passiert nun aber, wenn das Vernunftwesen sich selbst ad absurdum führt ? Wenn die Ratio sich selbst widerlegt? Wie handelt man in dieser Situation? Und ist so etwas künstlerisch greifbar? Kann das Stoff sein für ein mimentisches Genre?
       

Viele Frage stellen sich angesichts eines Stoffes, der als Realität schon nicht greifbar ist und nun in dramatischer Form Vergnügen bereiten soll. Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth behandelt die Rolle, die Papst Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs gespielt haben soll. Alles, was mit diesem historischen Ereignis zusammenhängt, gehört zu diesem Stück -- es ist nicht nur ein Nebenschauplatz deutscher Außenpolitik, es ist einer der "radikalsten Konflikte des Abendlandes überhaupt" (Piscator: Vorwort EA). Dessenungeachtet handelt es sich nicht um ein historisches Drama. Ebenso kann man bei Rolf Hochhuths Stück nicht von einem Gegenwartsstück sprechen. Das Stück, inzwischen ein Klassiker, hat klare dramatische Konzepte. Das wichtigste Konzept ist das dokumentarische, was an sich schon ein Verfremdungsmittel ist (vgl. Brecht: Notizen über V-Effekte). Es setzt allerdings Wissen voraus. (Im Übrigen ist genau das eine Forderung des heutigen Theaters für klassische Stücke: das Publikum muss wissen, worum es geht und die Stücke kennen!) Zum Zweiten sind alle Charaktere widersprüchlich angelegt. Dass der Einzelne im Namen eines anderen handelt -- stellvertretend --, ist Programm in Rolf Hochhuths Stück von 1961. Diesem Programm fühlen sich auch Philip Tiedemann und das Berliner Ensemble verpflichtet und sie versuchen, die Dialektik mit dem hauseigenen Stil zu verbinden. Auch wenn das BE zurzeit als gefälliges Theater den Brechttraditionen zu widersprichen scheint, sind einige Tendenzen durchaus im epischen Sinne und nach wie vor anzutreffen: widersprüchliche Charaktere, diskontinuierliche Charakterentwicklungen, Einheit zwischen Realismus und Poesie und dialektische Betrachtungsweise als Vergnügen. Zudem ist die dokumentarisch-ästhetische Qualität des Epikers (!) Hochhuth unbestritten und konnte auch im BE vollends überzeugen. Den größten Beitrag dazu leisteten jedoch die Schauspieler. Ein Schauspieler dieses Stückes muss gleichzeitig einen Typus und einen Charakter darstellen können. Diese Herausforderung ist wenig dankbar und erfordert einiges Geschick. Es kommt extrem auf die Souveränität des Schauspielers als Person an. An dieser Stelle muss auf die herausragende Leistung Hans-Michael Rehbergs als Papst hingewiesen werden. In eben dieser Leistung, dem dadurch erzeugten Vergnügen beim Publikum und der Brisanz des Stoffes, der die Deutschen in einem doppelten Sinn betrifft (aber heuer eher bestätigt als provoziert), beweist sich das epische Potential des Textes.

   
       
    Auf die theoretische Forderung Brechts, der Schauspieler müsse beobachten, nachahmen und denken (vgl. Brecht: Kleines Organon für das Theater, § 54), trifft die im politischen Sinne schlechterdings ausgeschlossene Handlungsmöglichkeit der Figuren bei Hochhuth. Hier kommen wir zum Kern des Stückes: der Frage nach der persönlichen Handlungsmöglichkeit der Figuren, nach der freien Entscheidung im klassischen (schillerschen) Sinne. In der widersprüchlichen Anlage der Charaktere als Repräsentanten (Stellvertreter) bestimmter Machtinteressen und als dem eigenen Gewissen verpflichtete Individuen wird ein Dilemma des Handelns im Dritten Reich, respektive jedem totalitären System, deutlich, das dialektisch aufgelöst wird. Einerseits gilt für die Täter die Aussage des SS-Obersturmführers Gerstein (der von Rainer Philippi ausgezeichnet dargestellt wurde): "das Urteil der Geschichte spricht uns frei" (I. 3) Andererseits bleibt der tendenziöse Vorwurf, das eigene Gewissen in bestimmten Machpositionen nicht handlungsmotivierend eigesetzt zu haben. Diese zwei Tabus -- einmal die Täter-Opfer-Umkehrung nach dem Zusammenbruch, zum anderen der individuelle Opportunismus --, deren Brechung unter anderem bei der Uraufführung 1963 einen Skandal auslöste, stehen in einem typischen kapitalismuskritischen Kontext, der auch heute noch aktuell ist.
       

Als nicht mehr aktuell und als eben tendenziös ist dagegen die Darstellung der Rolle der Kirche im allgemeinen. Hochhuths Intention ist ja unter anderem auch die, den Freiraum- und Widerstandsmythos der Kirchen zu widerlegen. Die Positionierung des Autors ist nun aber tendenziös, das heißt, die bekannten Schuldzuschreibungen an die Kirche werden einfach tradiert (Inquisition, Kreuzzug, Missionierung). Auch wenn durch Einzelpersonen (Riccardo) und durch differenzierte Aussagen ("sie vereinfachen" I. 3; "das Gewissen ist als Instanz höchst zweifelhaft." I. 3; "und jeder […], der da hilft, riskiert sein Leben!" I. 3; "Haß ist nie das letzte Wort" I. 3 usw.) viele Handlungsmöglichkeiten erwähnt und gewürdigt werden, bleibt letztlich der Vorwurf an den Papst: "Nichtstun -- das ist so schlimm wie mittun!" (II. 1) Andererseits ist der Katholizismus im besonderen fast fremd. Die Möglichkeit der Einfühlung und der Identifikation ist heute somit gering, vor allem im traditionell protestantischen Berlin. Im Katholizismus deutet sich allerdings nach wie vor etwas von Erhabenheit an, die in den wenigsten Fällen lächerlich, seltener fremd anmutet. Um so größer ist die Gefahr, auf der Bühne die Erhabenheit und damit die Glaubwürdigkeit zu verlieren, noch dazu bei starken Verfremdungen. Sowohl Rehberg als Pius XII., aber vorher auch schon Peter Fitz als Kardinal, sind ihren Rollen völlig gewachsen. Es erscheint nicht als lächerlich, wenn mit politischem Duktus disputiert und gleichzeitig der Segen verteilt wird. Selbst das Gebet in der Schlussszene, das durch ein verwirrendes (symbolisch vielleicht als Rückzug zu deutendes) Bewegen des Heiligen Stuhles als Sitzmöbel beendet wird, wirkt authentisch.

   
       
    Hier deutet sich jedoch schon an, was der Inszenierung völlig abging: ein lehrhafter Effekt beim Zuschauer. In diesem Zusammenhang muss der Inszenierung sogar Symbolismus vorgeworfen werden. Der fünfte Akt fehlte fast völlig. Er war nur über eine kurze, symbolistische Szene ohne Worte (wie bei Tschechows Drei Schwestern am Deutschen Theater) angerissen. Dieser Akt jedoch stellt die eigentliche Auseinandersetzung mit Auschwitz dar. Und er verdeutlicht in extremer Form die -- trotz allem absolut freien -- Handlungsmöglichkeiten im Angesicht totalitärer Systeme. Zu sehen war innerhalb einer Dekonstruktion der Bühne die freiwillige Anheimgebung ans Feuer. Allerdings stieg nicht nur der nackte (wie zu erwarten war) Riccardo in einen Ofen, sondern mit ihm noch mindestens fünf andere Personen. Das Stück sieht im fünften Akt vor, dass Riccardo im Angesicht seiner Ohnmacht vor dem Heiligen Stuhl freiwillig nach Auschwitz geht -- dass er also die Freiheit der Entscheidung konsequent mit dem Leben bezahlt. Die Interpretationen müssen hier unterbleiben, da das Schlussbild der Tiedemannaufführung im Sinne des Stücks eben nicht dialektisch und nur bei Textkenntnis halbwegs zu entschlüsseln war. Zudem schien es in der Aufführung so, als sei die Figur Riccardos als Stellvertreter des SS-Obersturmführers Gerstein interpretiert. Somit widersprach das Schlussbild dem Aufführungkonzept.
       

Dass Kürzungen unvermeidlich sind, ist im Sinne eines Aufführungskonzeptes wünschenswert. Piscator deutete 1963 schon die Schwierigkeit an, aus "diesem ‚totalen' Stück eine Bühnenfassung herzustellen, aus dem Stück ein Stück zu schneiden" (Erwin Piscator: Vorwort EA), bezeichnete dies aber ebenfalls als unvermeidlich, um das Publikum mit den wichtigsten Teilen des Stückes bekannt zu machen. Dies ist am BE geschehen. Auch dass auf Pathos durch Märtyrer verzichtet wurde, ist verständlich aber weder der schillerschen Forderung noch der Erhabenheit (vgl. Schiller: Über das Pathetische) Rechnung tragend. Eben deshalb hätte nicht der ganze Akt gestrichen werden dürfen, vor allem auch dann nicht, wenn das Anfangskonzept (bzw. Piscators Forderung) nicht weiterverfolgt wird und etwas offen bleibt. Das Publikum reagierte dementsprechend verwirrt. Einesteils könnte die Schlussaussage über Auschwitz ein ihriges getan haben. Andererseits erwartete man eine Fortführung und empfand ein Gefühl der Leere. Zugegeben ist das auch die einzig angemessene Emotion angesichts des Stoffes. Trotz der überflüssigen und ärgerlichen Schlussszene kann die Aufführung als halbwegs gelungen bezeichnet werden. Um nochmals mit Piscator zu sprechen: "Dieses Stückes wegen lohnt es sich, Theater zu machen; mit diesem Stück fällt dem Theater wieder eine Aufgabe zu, erhält es Wert und wird notwendig." (Piscator: Vorwort EA). Schade nur, dass ein Angriff auf die Kirche eher Vorurteile bestätigte und die Aufführung die dialektische Anlage des Stückes nicht zu einer Neuinterpretation zugunsten der Kirche als Täter, sondern eher zugunsten der Nazis als Opfer nutzte. Einige Szenen versprachen etwas anderes (II. 1; III. 2), aber man kann nicht alles haben.

   
       
     
© by MaW, 08.-11. Oktober 2003.