REZENSION
       

Minimiere die Harmonie!

Wie die Musiker des Studios Neue Musik Moskau Nikolai Korndorf verstehen --
ein Konzertbesuch mit MaW am 30. September 2003

   
       
    Für zwei Tage gastierte das Kammermusikorchester des Studios Neue Musik Moskau unter Igor Dronov und Vladimir Tarnopolski im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Im Rahmen der Berliner Festspiele gab es dabei gewohnt ungewohnte Klänge zu hören. Das gar nicht so typische, 80köpfige Publikum am 30. September 2003 wurde freundlicherweise komplett im A-Bereich des Kammermusiksaals platziert, also auf den besten Plätzen. Dass die Zuhörer nicht so typisch waren, sollte sich kurz nach Beginn des ersten Stückes herausstellen.
       

Die Komposition Confessiones von Nikolai Korndorf, bei der die Musiker nacheinander entsprechend ihres Instrumenteneinsatzes die Bühne betraten, wurde durch eine Blockflöte unkonventionell eröffnet. Die Blockflöte spielte allerdings verwirrend falsch. Es folgte ein langsam einsetzender und sparsamer Einsatz der Streicher (Kontrabass, Viola, Violine, Cello) und etwas später einiger Bläser (Fagott, Oboe, Klarinette). Zu diesem Zeitpunkt verließen mehrere Besucher ohne ersichtlichen Grund den Saal. Nach einem abrupten Bruch in der Komposition gab es ein interessantes Violinensolo, welches in einem dynamischen Einsatz vom Klavier im Wechsel mit Posaune und Trompete ergänzt um Perkussion (Vibraphon und Toms) kulminierte. Bis zu diesem Moment erschien die Komposition wie eine Fuge. Nach einem nochmaligen Bruch gab es einen Dialog zwischen Cello und Fagott. Dieser Teil stellte meines Erachtens den Höhepunkt des Stückes dar. Auf den sich anfangs ergänzenden Dialog, vor allem rhythmischer Art, folgte ein Unisono mit Pizzicato auf dem Cello. Dabei brillierte vor allem die Cellistin. Das Fagott fiel durch verfremdete, mechanische Klänge auf, die fast an Elektroakustik erinnerten. Der sich daran anschließende Einsatz des gesamten Ensembles, bestehend aus elf Musikern, klang wie die Parodie eines Dixiland-Orchesters. Die Perkussionisten und die Streicher spielten minimale monotone Figuren, die einen Klangteppich erzeugten. Dieser wurde dann von gedämpften Blechbläsern (Posaune, Trompete, Horn) und verfremdeten Holzbläsern (Fagott, Klarinette, Oboe) dynamisch ergänzt, ohne jedoch die Dynamik vom Anfangsthema anzustreben. Dabei spielten Trompete und Posaune immer im Wechsel gemeinsame Figuren, die sich rhythmisch stark an die Perkussion anlehnten. Analog zur Eröffnung der Komposition löste sich alles langsam auf, wobei die Musiker jedes aussetzenden Instruments nacheinander die Bühne verließen. Den Ausklang bildete ein russisches Kinderlied, welches über Lautsprecher eingespielt wurde und auch nachdem der letzte Musiker die Bühne verlassen hatte, weiterklang. Die Aufführung dauerte mehr als 30 Minuten. Vorsichtig interpretiert müsste aus der Struktur und dem Titel eine Kompositionskonzeption Korndorfs herausgelesen werden. Die Bekenntnisse betreffen alle Bereiche seines Schaffens, welches er selbst als Synthese bezeichnet. In der Verwendung aller musikalischen Mittel bekennt sich Korndorf als Ekklektizist, wobei aber die Verwendung von Folklore, Klassik, Dixiland, Minimal Music u.a. nie gleichgültig sein soll, und in der Interpretation des Orchesters auch nicht war. Vielmehr verwandelte der unkonventionelle Auftritt der Musiker, das falsche Blockflötenspiel und der eingespielte Gesang das sonst virtuose Spiel in ein Nebenbei -- Nebengeräusche, Bühnenhektik und synthetische Hörerlebnisse konterkarierten die Komposition, wobei eigentlich nur eine Erweiterung in Korndorfs Sinn gelegen haben mag.

   
       
    Auf diese orchestrale Komposition folgte das Terzett (Klavier, Violine, Cello) Are you ready, brother? Der melodische Beginn wurde von dynamischen Rhythmuswechseln unterbrochen und löste sich in einem Intermezzo des Cellos auf. Der darauf folgende Kompositionsteil wurde von einer typischen Minimal-Music-Konzeption dominiert, auf die sich wohl auch der Titel bezieht. Korndorfs Minimal Music lebt vom Zusammenspiel, aber eben im Sinne der Ergänzung. Für das vorgetragene Stück gab das Klavier gezupfte einzelne Töne vor, die von den Streichern weitergeführt -- ergänzt -- wurden. Aus einem extrem starken Attack des Klaviers resultierte ein theoretisch endlos langes Sustain der Streicher, was aber eben nur durch die wechselseitige Ergänzung zweier Instrumente realisiert werden konnte. Die durch das Klavierpizzicato erreichte Dynamik wurde durch neuerliches Tastenspiel mit einfachen trillerartigen Figuren vom Pianisten durch rhythmisches Spiel auf dem Woodblock erweitert und durch Veränderung der Patterns temporal gesteigert. Diese Temposteigerung wurde dann im Wechsel vom Woodblock auf eine präparierte "tote" Taste, die Rhythmusfunktion hatte, aufgehalten und kehrte nach einiger Zeit zum minimalen zweiten Teil der Komposition -- der Tonvorgabe durch das Klavier -- zurück. Nach mehr als zwanzig Minuten endete das Stück.
       

Nach der Pause begann das wohl melodischste Stück des Abends: Lullaby. Minimale harmonische Patterns wurden von zwei Klavieren abwechselnd gespielt. Leider war die Übergabe von einem Klavier zum anderen jeweils hörbar. Auch ist sehr dynamisch gespielt worden, so dass aus den Patterns fast Melodiethemen wurden. Hier wurde von den Interpreten das Konzept unterlaufen, wobei vielleicht auch die Kompetenz oder der Geschmack ein Übriges taten. Leider litt auch das Tempo unter der Themenarbeit, so dass Temposchwankungen hörbar waren. Die Minimal-Musik-Konzeption ist somit nicht konsequent durchgesetzt worden, trotzdem war dieses 15minütige Stück nicht uninteressant. Vor allem der Parameter Raumklang war trotz der engen Aufstellung der Klaviere deutlich wahrnehmbar und ein besonderes Merkmal der Komposition.

   
       
    Den Abschluss bildete das bassstrukturierte Dekonstruktionsstück Amoroso. Der melodische Beginn, den die Harfe dominierte und der über die Holzbläser (Klarinette, Oboe) und Streicher (Cello, Viola, Bass) erweitert wurde, brach sich am schmerzhaften Einsatz einer Piccoloflöte. Die Flöte brachte die Oboe und die Klarinette scheinbar durcheinander. Die Bläser überschlugen sich förmlich und führten die Harmonien in ein Chaos. Der anfangs sparsame Perkussionseinsatz (Vibraphon und Xylophon) wurde kurzzeitig von einem Gongspiel und einem großen Glockenspiel abgelöst. Das dekonstruierte Bläserchaos und die monotonen Streicher wurden anschließend durch kleine Glockenspiele aus allen Richtungen begleitet, was einen außergewöhnlichen Raumklang hervorrief. Das Stück schloss nach 30 Minuten durch ein Solo einer Celesta, nur ergänzt von den Perkussionisten. Dieser Teil der doch sehr gewöhnungsbedürftigen Komposition begeisterte mehr als die anfänglichen Harmonien. Überhaupt war dieses Stück durch die großen Kontraste und diametral entgegengesetzten Hörerlebnisse schwer zugänglich.
Insgesamt jedoch waren die ca. fünfzehn Musiker des 1993 gegründeten Studios Neue Musik Moskau sehr souverän und spielsicher. Herausragend war die Cellistin, enttäuschend jedoch die Blockflöte und die Lustlosigkeit des Hornisten. Der Versuch, dem deutschen Publikum den früh verstorbenen Komponisten Nikolai Korndorf nahezubringen, war auf jeden Fall lobenswert. Es scheint nötig, sich mit Korndorf weiterführend zu beschäftigen.
       
     
© by MaW, 01.-03. Oktober 2003.