REZENSION
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"Und jetzt — Was ohne Barbaren aus uns wird!/ Diese Menschen waren eine Art Lösung."

3. internationales literaturfestival berlin, 15. September 2003 — Griechische Kulturstiftung: Durs Grünbein liest eigene Lyrik und Lyrik von Konstantinos Kavafis
Eine Stippvisite von MaW

   
       
    Durs Grünbein bei der griechischen Kulturstiftung - wie geht das zusammen? Natürlich weil es eigentlich um Konstantinos Kavafis ging. Vor Jahren, so berichtete Grünbein, habe der Direktor der Stiftung ihm die entscheidende Frage gestellt: "Lieben Sie Kavafis?" Grünbein: "Ja, natürlich!" Warum das so natürlich ist, wurde im Laufe des Abends tatsächlich klar. Grünbein entwarf für Kavafis' 153 authorisierte Gedichte, bei denen er keine bestimmte Übersetzung favorisiert, ein einfaches, zweiteiliges Ordnungsschema, dessen erster Gliederungspunkt "natürlich" auch für Grünbeins Texte zutrifft: der Vergangenheitsbezug. Zum anderen, so Grünbein, lassen sich die erotischen Erfahrungen mit Männern in der anderen Gruppe von Texten finden. Wohl kein anderer europäischer Dichter habe in dieser Weise über seine homoerotischen Phantasien geschrieben wie Kavafis. Dabei sei er ein äußerst sprachökonomischer Lyriker gewesen, der genau wusste, wann ihm ein Text gelungen sei und wann nicht. Die augewählten Texte verfehlten ihre Wirkung nun auch nicht, genau diese Gedanken Grünbeins zu bestätigen. Die spontane Ankündigung, die drei Leseabschnitte, die zum ersten Kavafis-Gedichte, zum zweiten Gedichte von Grünbein und drittens wieder Kavafis-Texte vorstellen wollten, ohne jeweils den Autor zu nennen, wurde natürlich nicht eingehalten. Das lag einerseits daran, dass an viele, vor allem eigene Texte von Grünbein, Anekdoten geknüpft waren, die der Vorleser gern erzählte.
       

Zum anderen war der Lyriker bemüht, anhand der Kavafis-Texte dessen Poetologie vorzustellen. Dass das nicht in der Tiefe gelingen konnte, deutete sich spätestens mit Grünbeins Kommentar an, er habe eigentlich nicht vor, eine Vorlesung über Kavafis zu halten. Trotzdem waren einige interessante poetologische Betrachtungen zu hören, wie z.B. die Feststellung, dass die Kunst eigentlich immer lüge, dass aber die Lüge eigentlich nur die gealterte Wahrheit sei und im Lügen das meiste bewirke. Zum anderen unterhielt Grünbein noch mit einem Prosatext, mit welchem sich Kavafis selbst ein Denkmal setzte, indem er im Text die Forderung nach Aufnahme von Kavafis-Büchern in die Bibliotheken forderte. Dass dieser Text vor einer Veröffentlichung eigener Texte von Kavafis einem französischen Redakteur in die Feder geschrieben wurde, schien Grünbein nicht gewusst zu haben. Dieser dankenswerte Hinweis kam aus dem Publikum. Ein rechtes Publikumsgespräch wollte sich trotzdem nicht einstellen.

   
       
    Grünbein diskutierte noch kurz mit dem Direktor über die Erbeproblematik, wobei er berechtigterweise anzweifelte, dass nur die Griechen vor einem solchen Problem stünden. Die Grenze zwischen Medialisierung und Banalisierung auf der einen Seite und Traditionspflege und autonomer Produktion auf der anderen Seite sei zu akzeptieren. Gleichzeitig forderte Grünbein, überhaupt das antike Erbe, was leider viel zu oft mit Archaik gleichgesetzt würde, zu akzeptieren, denn alles was Europa und Nordamerika sei, sei es dadurch. Eine Folge der immer wieder hörbaren Ablehnung wäre die, dass sich die Gesellschaft selbst verlieren würde. Nur in der Beschäftigung mit der Tradition und in der Akzeptanz könnte man sich selbst zurückgewinnen. Damit klang der Abend, zu dem ca. 70 Gäste gekommen waren, bei einem Glas Wein aus.
       

Playlist:
• Nachmittagssonne
• Horaz in Athen
• Wenn du von Liebe hörst
• Neros Frist
• Warten auf die Barbaren
• Die Schwermut Jasons
• Sehr selten
• Im gelben Raum
• Tage von 1909, 1910, 1911
• Die Vitrine des Tabakhändlers
• An der Tiberiusbrücke
• Excedra an der Gräberstraße
• Ein Kolonist in Oktoduio
• Prosastück: Kann es eine Kunst geben ohne die Frau?
• Phantasie über öffentliche Latrinen
• So soll es sein (Katja Lange-Müller)
• Philhelene
• Medaillons
• Pheromone
• Fleisch&Stein
• Adrian hat ein Dichter kritisiert
• Luxus verdirbt den Stil, sagt Seneca
• Seit frühester Zeit griechisch
• Prosastück: Porträt
• Ich habe nie auf dem Lande gelebt
• Prosastück: Lügt die Kunst nicht immer?
• Tage von 1901
• Mir gefällt und mich reizt die Schönheit des Volkes
• Verborgenes

   
       
       
     
© by MaW, 16. September 2003.