REZENSION
                             
       

Sinnlichkeit der Sinnfreiheit
ODER Warum kann nicht mal die Dicke die Prinzessin sein?

Über eine verpasste Chance, kolportierte Klischees und die Möglichkeiten kitschig zu sein. Zur Komödie "Der Kaufmann von Venedig" von William Shakespeare im Depot I des Schauspiels Köln am 22. Februar 2014 - rezensiert von
M. Wozniak

   
       
   

Gäbe es die historische Aufführungspraxis jetzt auch beim Theater - man hätte die Kölner Inszenierung von Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" beinahe für eine dieser Art halten können: sinnlich, quellenorientiert, anachronistisch. Sinnlich ist die Inszenierung, und zwar derart, dass es kitschig wird: Ist Kitsch nicht das, was sich immer wiederholt, weil angenommen wird, dass es allen gefällt? Ist Kitsch nicht auch das Wiederholen von Klischees? Hier begegnet dem Zuschauer der Kitsch bei allen Anleihen, Verweisen und Adaptionen (z.B. Shakespeares Sonette, jiddisches Lidele, Proxemik = Bewegung der Akteure im Raum), aber auch bei darstellerischen Nonsens-Ideen (Urinieren in den Kanal oder Weinen im letzten Aufzug durch die Benedict-Cumberbatch-Karikatur Gratiano, gegeben von Yuri Englert). Übrigens: Die Schauspieler spielen das, was der Intendant ihnen sagt, und das machen sie alle hervorragend. Was den Text betrifft, so wird Shakespeares Original in der Übersetzung von Klaus Reichert reichlich ausgekostet, allerdings oberflächlich (Kalauer, sexuelle Anspielungen). Wo ist zum Beispiel die Doppelbödigkeit von Shakespeares Text in der Inszenierung, von der das Schauspiel Köln so programmatisch spricht (vgl. Schauspiel Köln. Theaterzeitung Ausgabe II 2013/2014, S. 04)? Da hätte doch eine Parodie die Kolportage der Vorurteile verhindern können. Wo ist die Auseinandersetzung mit den zentralen Handlungssträngen? Und da zeigt sich der Anachronismus: Es ist keinerlei Gegenwartsbezug erkennbar. Die Inszenierung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, gefällig zu sein. Es gibt keine echte Auseinandersetzung mit den Konflikten des Stücks. Nur ein Beispiel: Die Charaktere sind teilweise nicht stimmig gezeichnet und biedern sich den Sehgewohnheiten der Zuschauer an. Die weiblichen Hauptrollen, Portia gegeben von Yvon Jansen und Sabine Orléans als Nerissa, scheinen nach dem Aussehen der Darsteller besetzt worden zu sein. Warum fehlte hier der Mut zur Parodie? Warum kann nicht mal die Dicke die Prinzessin sein?

       

Mit zwei dankbaren Hauptkonflikten dieser märchenhaften Komödie hätte sich einiges machen lassen. Antonio, der Kaufmann von Venedig, leiht für die Brautwerbung seines Freundes Bassanio Geld bei Shylock. Während Bassanio in ein Rätselspiel beim Freien um Portias Hand verwickelt wird, verliert Antonio alle geschäftlichen Einsätze und soll die Schuldverschreibung bei Shylock einlösen: ein Pfund seines Fleisches. Ein großer Prozess führt im vierten Aufzug die Perfidie der Rechtssprechung vor, Shylock bleibt eine tragische Figur, während sich alles andere zum Guten wendet.

   
       
   

Abgesehen von teils schrillen, teils alltäglichen Kostümen - die im Übrigen den einzigen Gegenwartsbezug der Inszenierung darstellten - sieht man gerade in der Figur des Juden Shylock, der als einziger die klischeebehaftete Kleidung einer anderen Zeit tragen muss, die ganze Unüberlegtheit und Geschmacklosigkeit der Inszenierung. Hier kann Bruno Cathomas, obschon man ihm für sein Spiel ein "Chapeau" zurufen möchte, nichts mehr retten, so sehr er es auch versucht. Die gesamte Anlage des Hauptkonflikts wird nur abgebildet; und zwar mit Äußerlichkeiten, also als Kolportage!

       

Der Konflikt zwischen Antonio und Shylock beruht nicht etwa, wie es die Inszenierung behauptet, auf einer religiös motivierten Rivalität, sondern auf einer Geschäftsbeziehung. Dass diese geschäftliche Abhängigkeit Stoff für gegenwärtige Bezüge bietet, liegt auf der Hand. Wie sehr ist doch der "Zins" Indikator der Unmoral, ohne heutzutage immer noch im Bezug zum Klischee des jüdischen Wucherers zu stehen. Hier hätte die Inszenierung ansetzen müssen, indem sie radikal auf die Kolportage der Vorurteile gegenüber Juden verzichtet. Aber was macht die Inszenierung, die bis auf den Text alles in eine unbestimmte Zeit verlegt? Sie präsentiert dem Zuschauer Shylock im Kaftan, Shylock als anachronistische Figur, Shylock als Relikt. Was ist bewahrungswürdig am jüdischen Vorurteil? Seit wann ist Venedig das Schtetl?

   
       
   

Dieses Ärgernis wird durch den Einfall, die Figur der Jessica, Tochter des Shylock verkörpert von Julia Riedler, bei ihrer Flucht statt in Knabenkleidern in einer angedeuteten SS-Uniform zu zeigen, noch gesteigert. Dieser einzige Verweis auf den Holocaust ließ als Übersteigerung der "Zwangsassimilation" (so Christian Bos in seiner Rezension im Kölner Stadtanzeiger vom 24. Februar 2014, S. 22) der Identität des übermächtigen Feindes anfangs hoffen, verpufft aber angesichts des vierten Aufzugs. Es gibt wie erwähnt keine Auseinandersetzung, es gibt keine Idee, die tatsächlich ausgeführt wird, um etwas mehr als nur Unterhaltung zu bieten. Und dieser Ideen gibt es noch mehr: z.B. die Zwillingsfiguren Solanio und Salarino, die als schauspielerisches Highlight wie Schulz und Schulz oder Gilbert und George von Johannes Benecke und Thomas Müller gegeben werden. Oder die Souveränität Antonios (Gerrit Jansen) zu Beginn und am Ende des Stücks. Er demontiert sich leider (offensichtlich unabsichtlich) im Verlauf der Handlung selbst, indem er aus seiner melancholischen Weltflucht plötzlich doch existentielle Ängste mit Alkohol bekämpft und Hysterie kolportiert. Ein weiterer guter Einfall ist, dass Lanzelot Gobbo (Jörg Ratjen) zu Beginn des fünften Aufzugs die Aufführung kommentiert, indem er theaterwissenschaftliche Deutungsarbeit leistet. Man fragt sich nur, warum diese Technik des Distanzierens nicht für die brisanten Stellen eingesetzt worden ist. Denn brisant ist der Konflikt Antonio/Shylock allemal, vor allem auch deshalb, weil die religiösen Implikationen weit mehr Gewicht erhalten als ihnen zusteht. Eine ironische Brechung selbst durch die Übersteigerung der Gnadenworte Portias durch Orgelmusik findet nicht spürbar statt. Vielmehr führt die Inszenierung gerade und vor allem der Gerichtsszene dazu, dass Ensemble und Publikum geschlossen der Figur des "Juden" gegenüberstehen, der Figur, der eine Lektion erteilt worden ist, der Figur, die die eigene Tochter unterdrückt und misshandelt, der Figur, der nach des freien Bürgers Blut dürstet.

       

Und das war nun auch das, was am Ende beklatscht wurde, da diese Niederlage Shylocks nicht als Niederlage der Geltungs- oder Rachsucht, sondern als Niederlage des "Juden" stehenbleibt. Natürlich ist das Stück komisch, natürlich entfalten sich die märchenhaften Elemente vor allem im zweiten Handlungsstrang, der Brautwerbung um Portia. Die überaus sinnliche Darstellung dieser Komödie, die derb-frivolen Anspielungen sowie die musikalische Untermalung haben den Beifall selbstredend verdient. Dieser Umgang mit den nach Antisemitismus riechenden Klischees, mit Shakespeares Spiel mit Vorurteilen und mit der Chance des Theaters allgemein ist allerdings kritisch zu sehen. Alles in allem ein großer Kolportageabend.

   
       
       
     
© by MaWozniak, 26. Februar 2014