REZENSION
                             
       

Die Neutralität der Macht

Friedrich Schiller: Don Karlos. Infant von Spanien. Fassung des Schauspiels Leipzig auf Grundlage der Erstausgabe von 1787 unter Verwendung der Rigaer Bühnenfassung von 1787, beobachtet von MaWozniak am 19. April 2005

   
       
   

An der Inszenierung von Schillers Don Karlos am Schauspiel Leipzig wird deutlich, wie sehr wir Schiller brauchen. Wer meint, Friedrich Schillers Stücke im Jubiläumsjahr nicht spielen zu müssen, wie die Berliner Theatermacher, soll ihn dieses Jahr nicht spielen. Aber bitte: er soll all die anderen Jahre gespielt werden. Denn, das Leipziger Schauspielhaus hat eine lebendige, aktuelle und anregende Inszenierung zustande gebracht, die den zeitlosen Charakter des Don Karlos in besonderer Weise hervorhebt. Auf Mantel-und-Degen-Effekte ist konsequent verzichtet worden. Stattdessen ist die Handlung in eine anonyme, scheinbar neutrale, aber überaus glatte und bekannte Zeit verlegt worden: in eine Gegenwart der Manager und der organisierten Kriminalität, der Hochsicherheitspolitik und der Global Players. Die große Leistung der Inszenierung besteht nun darin, die Anspielungen auf eine konkrete Sphäre dezent und subtil zu gestalten. Keine Sphäre dominiert wirklich, es findet keine Transformation der Geschichte in die Unter- oder Wirtschaftswelt statt. Stattdessen werden diese Halbwelten benutzt, um Assoziationen zu bieten, ohne ein soziales Erklärungsmuster vorzugeben. Hier ist Schillers Ansatz des Geschichtsdramas konsequent umgesetzt worden. Es geht nicht darum, über Geschichte zu informieren. Es geht auch nicht darum, Geschichte nur als beliebige Folie eines immer gleichen Welterklärungsmusters zu instrumentalisieren. Es geht darum, auf Möglichkeiten hinzuweisen, darum, die Frage anzuregen, wie Geschichte möglich war und warum. Und es werden Handlungsmöglichkeiten durchgespielt, das Publikum wird angeregt, die eigenen Handlungsmuster zu überprüfen.

       

Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Konflikte des Infanten Don Karlos (Martin Reik). Er liebt seine "Mutter" und interessiert sich für die Freiheit der Niederlande. Er interessiert sich nur dafür, denn über das flüchtige Interesse geht das Engagement des Infanten nicht hinaus. In den Entscheidungsmomenten handelte er gerade so, wie es die Situation verbietet. Don Karlos versucht z.B., seiner Liebe Gewicht zu geben, die Liebe über die Herrschaft zu stellen, sie gleichsam zu legitimieren, weil er Herrscher ist. Allerdings unterwandert er die Legitimation seiner Herrschaft damit. Daraus erklärt sich auch die fortlaufende Hoffnung auf Erfüllung des "unerfüllbaren Begehrens", welches ja Liebe ist. Die Hoffnung stellt sich immer dann ein, wenn Karlos kraft seiner Legitimation den Griff zur Macht wagt. Dass der Griff zur Macht analog zum Begehren unerfüllbar bleibt, bleiben muss, das ist der Kern des Stückes. Jede Handlung bleibt gelähmt durch die Bedingung der Unerfüllbarkeit. Dass die Unerfüllbarkeit Bedingung ist, weiß auch Karlos' Jugendfreundin Elisabeth (Stephanie Schönfeld), inzwischen Frau von Karlos' Vater Philipp II. (Jens Winterstein): "Liebe/ Kennt der allein, der ohne Hoffnung liebt." (V. 1604f.). Don Karlos ist zwangsläufig zur Ohnmacht gezwungen, weil er den Charakter des idealistischen Schwärmers trägt, der alles und nichts will, und das immer und nie. Dass er aus diesem Grund als Naivling, als Teenager und als phlegmatischer Taugenichts dargestellt wird, ist so konsequent wie sympathisch und überführt die Persönlichkeit des Protagonisten in ein nur allzu bekanntes Modell: das des postmodernen Konsumenten.

   
       
   

Ganz anders Marquis von Posa (Torben Kessler). Er stellt das Weltgewissen dar, den zur Macht verdammten Utilitaristen und in seinen Handlungen spiegelt sich der Realpolitiker des Postkommunismus. Posa kommt zur Macht aufgrund seiner Wahrhaftigkeit. Er wird Vertrauter, weil er vertraut und er ist legitimiert zu legitimieren. In dem Maße, in dem er die Macht Philipps stärkt, bereitet er Karlos' Herrschaft vor. Je stärker er die Methoden Philipps anwendet, um so offensichtlicher wird das daraus folgende moralische Dilemma. Die Analogie zum demokratischen Machtverständnis ist unübersehbar. Denn Posa arbeitet im wesentlichen auf eine Utopie hin, deren aporetischer Ausgang stark an Diskussionen um den gerechten Krieg erinnert. Dabei wird Posa weniger von der Macht verführt, als man annehmen könnte. Vielmehr handelt er im besten Streben als "Abgeordneter der ganzen Menschheit" (V. 157). Die Inszenierung überspitzt dieses Machtverständnis bis hin zur Todesstrafe: Auch nachdem Karlos schon arretiert ist, richtet Posa eigenhändig die Prinzessin von Eboli (Anja Schneider) hin, um weitere Intrigen ihrerseits zu verhindern. Diese Handlung inszeniert ausschließlich Posa, denn die Intrigen der Eboli sind zu schwach gestaltet, als dass sie ihre Funktion offenbaren könnten.

       

Und an diesem Punkt enttäuscht die Inszenierung etwas. Programmatisch soll die Männermacht bloßgestellt werden (vgl. das leider misslungene Programmheft, S. 20) und es wird versäumt, die reale Macht, die auch Frauen durch vielfältige Methoden erreichen, in ihrer Konsequenz darzustellen. Schiller ist kein Patriarch. Die erste tragende Rolle der Eboli versagt wie erwähnt. Aber auch die weitaus stärkere Frauenrolle der Elisabeth kann hier nicht Abhilfe schaffen. Selbst wenn sie gegen Philipp erfolgreich opponiert ("Wem mehr, als Ihnen, die, sobald sie will,/ Ihn unumschränkt beherrschen kann?" V. 2166f.), bleibt ihre Ohnmacht deutlich, da ihre Persönlichkeit und ihre Legitimation kompromittiert werden. Das geschieht innerhalb der zentralen Dialoge in Form einer Symbiose von Talkrunde und Gerichtsverhandlung. Diese Szenen analysieren auch das Verhältnis von Macht und Freiheit: Welche Erkenntnis natürlicher Tatsachen führt zu freien Entscheidungen? Entscheidet ein Herrscher aufgrund von Erkenntnis oder aufgrund der Legitimation? Domingos Feststellung: "Der Wille des Monarchen/ Verleiht die Tugend wie das Glück" (V. 2711f.) stellt Herrschaft als Bedingung des Willens dar, wird aber geäußert mit dem Zweck der Einflussnahme auf den "Willen des Monarchen". Weder das Wissen an sich noch die Herrschaft per se kann Freiheit garantieren. Und deshalb können sich viele Intrigen vor den Augen der Beteiligten abspielen, ohne dass sie wahrgenommen werden oder zu einer klaren Erkenntnis führen würden. Vielmehr schürt jede neue Information neues Misstrauen. Auch hier gilt also das Prinzip der Unerfüllbarkeit, diesmal von Erkenntnis. Als überaus konsequent muss deshalb das Ende der Inszenierung bezeichnet werden, bei welchem aufgrund der Bedingung der Unerfüllbarkeit neben der Person des Karlos auch die Person der Elisabeth hingerichtet werden muss. Dass dies nicht von einem Kardinal im Ornat, sondern einem gehbehinderten Godfather (Friedhelm Eberle) entschieden wird, unterstreicht das Fingerspitzengefühl des Regisseurs Wolfgang Engel. So muss Schiller gespielt werden! Die Charaktere sollen Typen sein, deshalb dominieren oberflächlich betrachtet die Rollen. Allerdings wird keine Entscheidung getroffen, ohne das Moment der Freiheit, das sich nicht aus Wissen, sondern aus Ideen ableitet. Diese Grundidee des Schillerschen Stückes ist gelungen in eine aktuelle Inszenierung überführt worden und entlarvt jegliche Vorstellung von Neutralität oder Sachzwang. Denn nach wie vor wird das Weltverständnis aufgrund willkürlich, nicht freiheitlich, ausgewählten und verbreiteten Wissens konstruiert, nicht nach einer in sich geschlossenen Idee von Freiheit.

   
       
   

Auch die technische Seite der Inszenierung muss gewürdigt werden. Sehr gelungen und heutzutage selten zu sehen war der Einsatz eines Vorhangs, der gemeinsam mit einer Drehbühne, die an eine Spieluhr erinnerte, für viel Dynamik sorgte. Die Musik wurde live von einem Saxofon-Quintett gespielt, drängte die Inszenierung aber nicht plakativ ins Mafia-Millieu. Und sprachlich sind Schillers Jamben so frisch und unaufdringlich dahergekommen, wie es ihre Aufgabe ist. Kleine Abweichungen und Streichungen waren so leicht zu verschmerzen. Die dreieinhalbstündige Inszenierung ist deshalb insgesamt unbedingt empfehlens- und nachahmenswert.

       
     
© by MaW, 01. Mai 2005