REZENSION
                             
       

"Sie könnten Johanna retten!"

Hitler der Vegetarier oder Warum Chicago in Deutschland liegt?

Zur 25. Aufführung des Brechtstückes Die heilige Johanna der Schlachthöfe am 11. Januar 2004 am Berliner Ensemble (BE) und dem anschließenden Publikumsgespräch -- ein Bericht von MaWozniak

   
       
    Die aktive Mitarbeiterin der Schwarzen Strohhüte, Johanna Dark (Meike Droste), will, mit Armut konfrontiert, wissen, wer dafür verantwortlich ist. Dabei gerät sie an den Geschäftsmann und Fleischkönig Mauler, der den gesamten Fleischmarkt Chicagos in seine Hand bekommen will. Sie meint, den Mauler zum sozialen Handeln bewegt zu haben, wenn er in den Fleischmarkt entsprechend den Gegebenheiten eingreift. Alle Aktionen sollen dem Ziel der Wiederinbetriebnahme der Schlachthöfe dienen, um den ausgesperrten Arbeitern wieder Arbeit und Brot zu schaffen, jedoch dienen sie genau dem Gegenteil. Trotzdem verlangt der Mauler von ihr die Bestätigung gut zu sein. Nachdem der Markt zusammengebrochen ist und streikende Arbeiter erschossen werden, erkennt die bei den Strohhüten hinausgeworfenene Johanna ihre Zuarbeit zum Mauler und bereut eine persönliche Unzuverlässigkeit. Mit den letzten Atemzügen schreit sie dem wiedervereinten Fleischring unter Mauler und den diese unterstützenden Strohhüten ihre Erkenntnis ins Gesicht und stirbt, was Mauler und Co. als Heldentod für ihre Sache ausschlachten.
       

Dieses von Brecht mit vielfältigen Zitaten aus dem kulturellen Erbe gespickte Schauspiel hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Nationalsozialismus oder dem Vegetarismus zu tun. Johanna kauft weder Tiere frei, noch interessiert sie deren Schicksal (auch wenn der Mauler sie mit der Beschreibung des Ochsenbrüllens zu Tränen rührt). Wenn hier einer Mitleid mit Tieren hat, dann der Mauler, der den Menschen gegenüber gerade keins hat. Dennoch ließ sich eine Dame aus dem Publikum dazu hinreißen, eine Szene, in der der Mauler Fleisch isst, mit "Scheiß Fleisch!" und die messianische Szene des Maulers, als er sagt: "Ich nehme das Fleisch der Welt auf meine Schultern!", mit "Hitler war aber Vegetarier!" zu kommentieren. Diese Dame, die nach Aussagen im anschließenden Publikumsgespräch auf vielen Veranstaltungen auftritt, schien das Stück falsch verstanden zu haben. In einer Fabrikszene stellte sie nämlich noch die Verständnisfrage: "Spielt das Stück nun in Deutschland oder in Chicago?"

   
       
    Die Schauspieler waren "naturgemäß irritiert", wie Peymann sich ausdrückte, und hätten gerne gekontert, was einzig in dem Kommentar Maulers auf den Hitlersatz mit "Sehr lustig!" gelang. Im Publikumsgespräch konnte ein anderer Herr davon berichten, wie er sich mit der Zwischenruferin in der Pause unterhalten habe. Dabei fragte sie ihn wohl, ob Brecht Amerikaner sei und dass sie angenommen habe, er schriebe sozialkritische Stücke. Die Wahrheit, auch über das aufgeführte Stück, konnte sie nicht ertragen und so musste das Publikum am Schluss der Vorstellung ihre Verabschiedung mit einem zackigen "Sieg Heil!" ertragen.
       

Abgesehen von diesem außergewöhnlichen Ereignis war an der Inszenierung leider nichts außergewöhnlich. Peymann gab nach der Vorstellung offen zu, die Johanna während der Proben zur Mutter -- was ja schon die erste seltsame Entscheidung für ein Brechtstück war -- geplant zu haben; und zwar aus folgenden Gründen: ersteinmal sei die Ähnlichkeit der ökonomischen Prozesse unübersehbar -- was damals Monopolisierung hieß, ist angeblich heute die Globalisierung. Die Johanna sei praktisch ein historisches Modell für die Mechanismen, die heute unverändert ablaufen sollen. Weiterhin gibt es angeblich Parallelen zwischen der korrupten Kirche und der "manipulierten" Presse, die heute "das schreibt, was die Wirtschaft will" und schließlich und endlich sei die Johanna doch "ein tolles Stück!" Über die allzu langen und allzu radikalen Thesen Herrn Peymanns, die in der sich schnell entwickelnden politische Diskussion ausgeführt wurden, soll im Folgenden der Mantel des Schweigens gehüllt werden.

   
       
    Man sollte statt dessen doch noch einmal eine kleinere Analyse der Inszenierung versuchen. Was langsam ein Markenzeichen des BE werden soll, ist die Arbeit mit den farblichen Kontrasten; gegen das Graue und Bleichgesichtige der Armut stehen Clownsgesichte und schrille Farben (so ein dominantes Rot im "Kühlschrankkontor" Maulers). Die Musik hat wieder den ihr zukommenden Stellenwert, was sich durch die Chorpassagen und die Liveinstrumente ausdrückt. Bei der Johanna ist dies so weit getrieben, dass der Schlusschoral Händels Messias' mit einem kräftigen "Hosianna!" parodiert wird. Auch sind die gesprochenen Chorgruppen konsequent eingesetzt worden. Dabei wird deutlich, dass eine gleichzeitige Beeindruckung und Verwirrung des Publikums erreicht werden kann, wenn eben die Inhalte der beeindruckenden Massenszenen nicht der Erwartung entsprechen -- meiner Ansicht nach die wichtigste dramatische Methode Brechts. Wie dem auch sei, hiermit deutet sich schon an, dass die durch und durch konventionelle Aufführung eigentlich Theaterhistorismus betreibt und eben keine Neuinterpretation Brechts wagt.
       

Herr Peymann wies im Gespräch auch darauf hin, dass Streichungen vor allem bei den Anspielungen zur Klassik usw. vorgenommen wurden. Diese Anspielungen seien einfach "Kunstgewerbe", für diese "Papierkunst fehlen gänzlich die Bildungsvoraussetzungen", d.h. sie seien einfach uninteressant und auch "unsinnlich für Dilettanten wie mich und Sie. Das überfordert uns alle, und sicher auch den Brecht!" Nun wies ein Zuschauer darauf hin, dass durch das Wegschneiden der "Textbeulen" die Relativierung des Schlusses, die durch das Faustzitat von Brecht selbst vorgenommen wird, völlig verloren geht und einzig der Gewaltaufruf der Johanna bleibt ("Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht"). Dieser Hinweis wurde von Herrn Peymann abgeschmettert durch die Interpretation des Schlusses als Bemäntelung der moralischen Kultur und als unübersehbaren Hohn Brechts dem Bildungsanspruch gegenüber. Der zweite Hinweis betraf das durch die oben erwähnten Streichungen entstehende Übergewicht der ökonomischen Mechanismen, die nach Aussage des Zuschauers "das Stück beschädigen" und eher an eine Proseminarsarbeit Ökonomie erinnerten. Zwar wehrte sich Peymann mit dem Hinweis, dass "Gerechtigkeit beim Streichen" nicht hilft, da das ja immer ein tendenziöse Entscheidung sei, dass er sich aber ob dieser Kritik durchaus geniere.

   
       
    Die einzige Rechtfertigung dieser ganzen Inszenierung ist, dass alle Zuschauer die Handlung verstanden haben dürften. Dabei fragt sich nun, ob Inszenierung und Interpretation eine Bildungsaufgabe in dieser Richtung ist?! Diese historistischen Ansätze, die Brecht folklorisieren und in ein Museum stellen, sind eher zweifelhaft. Ein gleiches Gefühl dominierte auch schon bei der Mutter, und wenn es nach Peymann gegangen wäre, hätten wir uns auch noch die Dreigroschenoper in diesem Stil antun dürfen (ohne dass dabei die kommerzielle Seite dieser eben gefälligen und berühmtesten Oper der 1920er Jahre berücksichtigt, sondern eher bestätigt worden wäre).
       

Einerseits haben das Stück trotz dieses peymannschen Bildungsanspuches doch nicht alle Zuschauer verstanden -- wie hätte es sonst zu den peinlichen Zwischenrufen kommen können. Andererseits, so beschrieb Peymann, gebe es eigentlich spätestens nach dem dritten Bild Szenenapplaus. Wenn dieser ausbleibt, wird euphemistisch davon gesprochen, das Publikum sei "beeindruckt". Die schauspielerische Leistung ist natürlich erwähnenswert. Nur leider wird auch vor Slapstick wieder einmal nicht zurückgeschreckt. Am angenehmsten war da noch der Rülpser der Frau Luckerniddle, als sie ihren toten Mann für 20 Mittagessen verkauft -- kongenial einstudiert von Carmen-Maja Antoni. Bei einer Liste über fehlende Lieblingsstellen schriebe ich an die erste Stelle die Szene mit der Schlachtmaschine, bei der sich niemand mehr die Finger schmutzig macht: oben wird der Ochse hineingeworfen und unten kommen die fertigen Büchsen raus, alles automatisch. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Das Publikum hat sein möglichstes getan in dieser 25. Aufführung und so lautete das Schlusswort im Publikumsgespräch, speziell an Claus Peymann gerichtet: "Sie könnten Johanna retten!"

   
       
     
© by MaW, 19. Januar 2004