REZENSION
                             
       

Zur aktuellen Lukrez-Rezeption bei Stephen Greenblatt

Über die Lukrez-Rezeption im Text The Swerve bei Stephen Greenblatt - rezensiert von
M. Wozniak

   
       
   

Mit der folgenden Rezension wird versucht, vor allem die Analysearbeit Stephen Greenblatts1 in seiner Veröffentlichung The Swerve (2011) bezüglich des Lukrez-Textes De rerum natura zu beschreiben und zu beurteilen. Der Text The Swerve ist eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung, die sich vornehmlich der Frührenaissance Anfang des 15. Jahrhunderts widmet. Auffällig an der Veröffentlichung sind zwei Ansätze: Greenblatt setzt mit biografischen Bezügen zu einem antiken Text ein und verfolgt in Form einer Reportage das Leben Poggio Bracciolinis, der den Lukrez-Text im Jahre 1417 entdeckt hat.2 Anstoß und Untersuchungsgegenstand ist der antike Text De rerum natura von Lukrez. Anhand der Rezeptionsgeschichte dieses Textes, deren Hauptfokus im 15. Jahrhundert liegt, präsentiert Greenblatt auch Hinweise zur Rezeption während der Entstehungszeit bis ins 18. Jahrhundert bzw. beginnende 19. Jahrhundert. Dabei spielt der Inhalt erst einmal keine Rolle. Greenblatt sucht in erster Linie Spuren, die Aussagen über die Rezeption zulassen.

       

Damit hält sich Greenblatt einerseits an seine Profession: Er ist vornehmlich Literaturwissenschaftler und durch seine Kenntnisse und Arbeiten zu William Shakespeare3 besitzt er ein großes Renommee. Zum anderen zeigt er durch die Form seiner Präsentation Tendenzen des New Historicism, eines literaturwissenschaftlichen Theorieansatzes, als dessen prominentester Vertreter er gilt. Kern dieses Ansatzes ist es, Geschichte als Textur zu beschreiben, d.h. die Verknüpfungen von Werk und Kontext als Beziehung eines Textes zu allen anderen Texten seiner Kultur im Sinne von Intertextualität4 zu verstehen. Zentrale Prämisse ist es also, Geschichte als Gefüge von Texten zu verstehen. Nur durch die Vorstellung der „Textualität von Geschichte“ (Montrose 22001: 67) lasse sich Geschichte erzählen. Erzählen ist hier im Sinne eines narrativen Verfahrens gemeint, welches Geschichte als Geschichten bspw. in Form von Anekdoten, Chroniken oder Augenzeugenberichten, aber auch als Bilder, Skulpturen oder Bauwerke versteht, die vom historischen Stoff nicht ablösbar sind.

   
       
   

Dieses genuin amerikanische Verfahren, welches zwar mit Methoden der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen5 Tradition europäischer Wissenschaften arbeitet, diesen Ansätzen aber entgegensteht, erinnert in ihrer Methodik an die Rezeptionsgeschichte,6 die ausgehend von einem Text Wahrnehmungs- und Wirkungsprozessen nachspürt. Greenblatt verknüpft seinen Ansatz mit journalistischen Mitteln, die vor allem als Reportage bekannt sind. Biografische Ansätze verbunden mit Beschreibungen von Orten und Situationen sollen im Erzähltempus Präsens unmittelbarer wirken.

       

Der Erfolg scheint Greenblatt Recht zu geben: Sein Text wurde mit dem National Book Award (Sachbuch) sowie dem Pulitzerpreis (Journalismus) ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien der Text 2012 und erreichte die SPIEGEL-Bestsellerliste. Die Taschenbuchausgabe folgte 2013.
Der englische Originaltitel „The Swerve“ bezieht sich wortwörtlich auf Lukrez. Mit Swerve werden Lukrez' Begriffe declinatio, inclinatio und clinamen übersetzt, wofür die deutsche Übersetzung vornehmlich Bewegung verwendet (vgl. 197). Wo sich also im Englischen der Titel direkt auf Lukrez' Text bezieht, suggeriert der deutsche Titel eher einen kulturellen, quasi politischen Bezug.7 Was hier als Übersetzungsproblem erscheint, folgt doch einer klaren Intention Greenblatts.

   
       
   

  • „Ein zufälliger Brand, ein Akt des Vandalismus, eine Entscheidung, diese letzte Spur dessen zu verwischen, was als häretisch galt, und Neuzeit und Moderne hätten einen völlig anderen Beginn und Verlauf genommen.“ (15)
  • „Dem Akt der Entdeckung galt die lebenslange Leidenschaft eines brillanten Buchjägers. Und dieser wurde, ohne es gewollt oder bemerkt zu haben, zum Geburtshelfer der Moderne“ (21)
  • „Er [Poggio] befreite ein Buch, das zu gegebener Zeit mit dazu beitragen würde, seine gesamte Welt zum Einsturz zu bringen.“ (59)

       

Mit diesen drei Zitaten lässt sich die Hauptthese, die der Titel des Textes wie erwähnt schon andeutet, klarer umreißen. Greenblatt spitzt den Rezeptionsprozess des Lukrez-Textes insoweit zu, als er den Textfund als Anlass eines Paradigmenwechsels erscheinen lässt. Lukrez sei in diesem Verständnis der Anlass,8 der zur Renaissance geführt habe. Argumentativ unterfüttert Greenblatt diese These zuerst begrifflich: Die „Wiederentdeckung“ korrespondiere mit dem Begriff „Re-Naissance, Wiedergeburt der Antike“ (vgl. 19). Zudem macht Greenblatt unter Rückgriff auf eine Methode des New Historicism den Leser mit einer Figur bekannt, die als Bücherjäger diesen Anlass personifiziert: Die historische Figur des Humanisten Poggio Bracciolini, der im Jahre 1417 in Deutschland ein Manuskript von Lukrez' De rerum natura gefunden haben soll.

   
       
   

Interessanterweise fokussiert Greenblatt Lukrez in diesem Zusammenhang gerade nicht inhaltlich. Wenn überhaupt, dann lässt er ihn als poetischen Fürsprecher Epikurs agieren. Dabei überwiegt die positive Beurteilung der Textqualität gegenüber der formal-inhaltlichen Beschreibung. An Analyse ist hier noch nicht zu denken. Der biografische Aufhänger ist eine persönliche Erfahrung, die wie ein Primary-Effekt die Hauptthese des Textes zu einer persönlichen Sache macht. Dabei wirkt sich der Primary-Effekt auch auf die Beurteilung des Textes aus:

       

„Es war nicht die herrliche Sprache Lukrez', die mich fesselte. […] Im Kern ist Lukrez' Lehrgedicht eine tiefe, therapeutische Meditation über die Todesfurcht, und diese Furcht hat meine ganze Kindheit bestimmt. […] On the Nature of Things berührte mich als erstaunlich überzeugende Darstellung dessen, wie die Dinge wirklich sind.“ (10ff.)

   
       
   

Diese Behauptung ermöglicht kaum einen vorurteilsfreien Zugang zu Lukrez, vielmehr fungiert dieser Satz als Spannungsmoment. Denn wie die Dinge wirklich sind, das kommt kaum zur Sprache. Greenblatts Nähe zum Journalismus offenbart sich hier also nicht nur anhand des Erzähltempus. Auch die kontinuierliche überschwänglich-lobende Beurteilung steht eher einer journalistischen Textsorte wie bspw. der Rezension denn einem historischen Sachbuch an. Die persönliche Sache, zu der Greenblatt seine Lektüre des Lukrez hier macht, setzt sich fort in seiner wissenschaftlichen Methode. Darunter leidet vor allem die Überzeugungskraft gegenüber wissenschaftlichem Fachpublikum. Neben Urteilen der Art, wie „nahezu vollkommen es Lukrez gelungen war, geistige Distinktion und ästhetische Meisterschaft zu verbinden“ (61), oder dass Lukrez „in Versen von unüberbotener Schönheit“ (90) schreibe, versteht Greenblatt Lukrez auch häufig nur als Sprachrohr Epikurs (vgl. 82).

       

Was nun den Inhalt von De rerum natura betrifft, unternimmt Greenblatt in Kapitel acht: Wie die Dinge sind nun doch durchaus eine Art Analyse. In literaturwissenschaftlicher Manier weist er darauf hin, der Text sei:

   
       
   

„keine leichte Lektüre. Das Poem umfasst siebzehntausendvierhundert Verse im Maß des Hexameters – der normale ungereimte sechshebige Vers, in den römische Dichter wie Vergil oder Ovid ihre Dichtungen gossen, Homers Griechisch imitierend. Das große Gedicht, unterteilt in sechs Bücher ohne Titel, verbindet Momente intensiver lyrischer Schönheit mit philosophischen Meditationen über Religion, Lust und Tod, mit komplexen Theorien zur natürlichen Welt, zur Entwicklung menschlicher Gesellschaften, zu Freuden und Gefahren der geschlechtlichen Liebe und zum Wesen der Krankheit. Die Sprache ist häufig verwickelt und schwierig, die Syntax komplex und der intellektuelle Anspruch insgesamt erstaunlich hoch.“ (191)

       

Diese Einleitung lässt einiges erwarten, aber wo genau die Momente intensiver lyrischer Schönheit und die philosophischen Meditationen sind, wird nur durch den wiederholten Verweis auf den Venushymnus angedeutet.9 Jene Stelle nun, die auf den römischen Mythos einer „schaffenden Naturgottheit“ (Martin 1972: 22) abhebt und den poetischen Anspruch des Lukrez programmatisch verdeutlicht, wird bei Greenblatt zum Paradigma einer Poesie, die nicht nur für den gesamten Lukrez-Text, sondern für das gesamte Universum gelte. „Lukrez betrachtete das Universum als unaufhörliche, intensiv erotische Hymne an Venus.“ (260) Mit dieser unter anderem als Hyperbel, Allegorie sowie Vergleich umschriebenen Figur der Venus vermeint Greenblatt ein Beispiel zu geben für die poetische Kraft von De rerum natura. Durch den Verzicht auf weitere Beispiele wirkt diese Redundanz allerdings wenig überzeugend.

   
       
   

Darüber hinaus gelingt es Greenblatt nicht, auf die wechselnden Passagen, in denen sich „dichterische Schönheiten" (Martin 1972: 25) über die „oft ermüdenden Darlegungen mit der eintönigen, ständig wiederkehrenden Aufzählung“ (ebd.) erheben, differenziert hinzuweisen.10 Auf die von Martin 1972 analysierte ungewohnte Sprachverwendung in De rerum natura durch bspw. Archaismen oder „eine Vorliebe für synkopierte und kontrahierte Formen“ (Martin 1972: 28) wird von Greenblatt außer durch den zweimaligen Verweis auf Lukrez' Textverwendung im Lateinunterricht des späten Mittelalters als „Demonstration korrekt verwendeten Lateins“ (20) gar nicht eingegangen. Textkritik liefert Greenblatt in analytischer Weise nur an der Stelle, an der er längere Lukrez-Passagen in der englischen Übersetzung zitiert.11

       

Kapitel acht gibt einen Kurzüberblick über Lukrez' Ansätze, die in Form von 21 kurzen kommentierten Thesen im Stil „Alles Seiende ist aus unsichtbaren Teilchen zusammengesetzt.“ oder „Alle Teilchen bewegen sich in einer unendlichen Leere.“ aufgelistet werden. Greenblatts Stil verknüpft dabei Lukrez'sche Begriffe mit neuzeitlichen Vorstellungen bspw. eines „intelligenten Designs“ (196). Die begriffliche Verknüpfung ohne Begriffsklärung, Distanzierung oder Kommentar ist kennzeichnend für Greenblatts Methode. Durch diese begriffliche Öffnung lässt der Text gerade im Hinblick auf z.B. die Funktion von Lukrez' Proömien12 eine analytische Klärung vermissen. Diese Inkonsequenz zeigt sich auch bei der Beurteilung der Göttin Venus. „Die Unstillbarkeit des sexuellen Verlangens ist, nach Lukrez' Ansicht, eine der durchtriebenen Strategien der Liebesgöttin Venus“ (206).

   
       
   

Der Unsicherheit, hier klar Position zu beziehen, steht ein überaus umfassender Nachweis von Spuren einer Lukrez-Rezeption bei zahlreichen Gelehrten entgegen. Dieser Nachweis, beispielsweise in Thomas Morus' Utopia (1516), gelingt sehr überzeugend. Den epikureischen Grundsatz identifiziert Greenblatt in Morus' Text beispielsweise dadurch, „daß alle unsere Handlungen und damit die Tugenden selber, ausschließlich das Vergnügen und die Glückseligkeit zum Endziel haben“13 (236). Die Fülle solcher Nachweise gepaart mit einem Name-Dropping von Petrarca über Giordano Bruno und Isaak Newton bis hin zu Thomas Jefferson beeindruckt und spiegelt die eigentliche Intention Greenblatts wider: ideengeschichtliche Spurensuche in unterhaltsamer Form zu präsentieren. Zudem überrascht hier auch, dass die Rezeption von Lukrez' Lehrgedicht in anderen europäischen Ländern überaus stärker gewesen zu sein scheint als in Deutschland.

       

Insgesamt jedoch schreibt Greenblatt zu ambitioniert und zu adressatenspezifisch. Er richtet sich an eine Zielgruppe, die primär an der Leichtigkeit des Zugangs und einer durch Spannung gekennzeichneten Erzählweise interessiert ist. Damit bietet der Text eine Qualität, die man als populärwissenschaftlich bezeichnet. Dadurch relativiert er den Ansatz des New Historicism als bloßes Erzählen von Anekdoten. Auch wenn die Exkurse für sich genommen ungemein breit gefächert und amüsant sind, fehlt die abschließende Analyse, die tatsächlich überzeugen könnte. Auch der biografische Bezug verbunden mit der Wirkmächtigkeit, die für Lukrez' De rerum natura unterstellt wird, überzeugt nur teilweise. Dieser an sich elegante Ansatz reicht nicht aus, um die Hauptthese tatsächlich plausibel zu machen. Offenbar korreliert der Beginn der Renaissance mit der Verbreitung des Kodex in Italien, allerdings kann die These, dass der Text den Anlass für einen Paradigmenwechsel darstellt, wie er für Descartes in der Philosophie oder für Winckelmann in der Kunstgeschichte konstatiert wird, nicht wirklich nachgewiesen werden.

   
       
   

Literatur und sonstige Quellen

       

   
       
   

Nachweise

  1.  Greenblatt ist Professor für Englische und Amerikanische Literatur an der Harvard Universität.
  2.  Vgl. auch Martin 1972: 33, hier wird als Fundort nicht wie bei Greenblatt Fulda, sondern Murbach vermutet.
  3.  Zuletzt Shakespeare's Freedom. Chicago 2010.
  4.  Vgl. vor allem den klassischen Text Der Tod des Autors von Roland Barthes, hier v.a. Barthes 2000: 190f.
  5.  Zwar weist Derrida darauf hin, dass Dekonstruktion keine Methode sei, aber die Selbstreflexivität ist schon auch Gegenstand des New Historicism, vgl. u.a. Derrida 1983: 45.
  6.  Hiermit ist vor allem die deutschsprachige Literaturwissenschaftstradition der Konstanzer Schule, speziell die Rezeptionsästhetik gemeint, vgl. Warning 1975.
  7.  So wird der Begriff „Wende“ im Deutschen als feststehende Wendung für politische Veränderungen ge-braucht.
  8.  Vgl. Anlassdebatte bei Münkler 2013: 28ff.
  9.  Die Häufigkeit ist frappierend, vgl. u.a. 9; 18; 206; 209; 256.
  10.  Ein Hinweis findet sich doch noch: „Epikur, sein [Lukrez'] philosophischer Meister und Führer, misstraute der Redegewandtheit, die Wahrheit, dachte er, müsse in nüchterner, schmuckloser Prosa präsentiert wer¬den. Doch die großartige Poesie des Lukrez'schen Werkes ist seinem visionären Vorhaben nicht äußerlich. […] Warum, so fragte er, sollen die Geschichtenerzähler das Monopol auf die Mittel behalten, die Menschen ersonnen haben, um die Schönheit und das Vergnügen an der Welt auszudrücken? […] Mit Hilfe der Poesie jedoch kann in seiner wirklichen Pracht dargestellt werden, was die Dinge wirklich sind – “ (208).
  11.  Er tut dies andeutungsweise z.B. bei den Zitaten der englischen Übersetzung von John Dryden sowie durch die Endnote 16 im Kapitel acht (vgl. 206 und 209).
  12.  Auch Greenblatt weist auf die Trennung von poetischem Stil und Ideen hin, allerdings nur als Reaktion oder Strategie der Humanisten, um sich vor den „gefährlichen Gedanken“ (229) zu hüten.
  13.  Bei Morus 1960: 72 klingt das folgendermaßen: „Darum also glauben sie aufgrund reiflicher Prüfung und Überlegung, alle unsere Handlungen und darunter sogar auch die tugendhaften zielten zuletzt auf die Lust als den Endzweck und die eigentliche Glückseligkeit.“

       
       
     
© by MaWozniak, 23. März 2014